Von Frédéric Schwilden
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Stand: 16.12.2021 | Lesedauer: 6 Minuten
Quelle: Frédéric Schwilden
In ihrer ersten eigenen Wohnung im sechsten Stock der Duisburger Mietskaserne, wo es keinen einzigen biodeutschen Namen auf dem Klingelschild gibt, laufen die Trockengeräte. Ein Wasserschaden. Yasemin Toprak ist ganz in Schwarz gekleidet. Sie schaut neugierig und aufgeregt und auch etwas schüchtern aus ihren braunen Augen.
An einigen Stellen der Wände ist die Tapete ab. Die Wohnung hat ein Bad, eine Küche und ein Zimmer, in dem ein Bett steht, ein Tisch und zwei Stühle. Davor ein kleiner Balkon. Und Yasemin Toprak erzählt, wie alles am 8. März 2021 begann.
Da war sie zu Gast im Podcast "1Live Intimbereich". Damals nannte sie sich nur Yazzy. Das bereut sie heute ein bisschen. Weil sie meint, dass es ja mutiger gewesen wäre, unter ihrem kompletten Namen aufzutreten.
Von der Moderatorin wurde sie so angekündigt: "Yazzy ist 29 Jahre alt, Deutsche, Jesidin, Feministin. Und Yazzy hat Sex." Und dann unterhielten sich zwei junge Frauen. Nicht pornografisch. Nicht vulgär. Lustig. Kurzweilig. Interessant.
Es ging auch um Yazzys kulturellen Hintergrund. Sie ist in Deutschland geboren. Ihre Eltern, jesidische Kurden, kamen 1989 als Asylbewerber. Sie wurden in der Türkei verfolgt und suchten und fanden in Deutschland ein neues, freies Leben. 1999 bekamen sie den deutschen Pass.
Zwei Wochen später, um die Mittagszeit, ging die Tür zur ihrem Zimmer in der gemeinsamen Familienwohnung in Dinslaken auf. So schildert es Toprak heute, acht Monate später. In der Nähe sind ein McDonald's, verschiedene Autowerkstätten und die Stadtwerke.
Es ist keine Villengegend. Aber das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnen, gehört ihren Eltern. Ihr Vater hat es gekauft. Er ist bis heute Stuckateur. Die Mutter war lange Hausfrau, jobbte aber auch irgendwann.
Ihr Vater habe wütend in ihrem Zimmer gestanden und ihre Mutter daneben. "Er war bereit, mir Gewalt anzutun. Mein Bruder hat ihn aufgehalten. Ich war stumm", sagt Toprak. Sie sei in der Pandemie depressiv geworden, habe über Suizid nachgedacht. "Und dann, ich weiß nicht mehr, ob es meine Mutter oder mein Vater war, hat einer gesagt: Warum hast du dich denn nicht umgebracht?"
Eine von Topraks Schwestern hatte den Eltern vom Podcast erzählt. Gehört, so mutmaßt sie heute, hätten sie ihn wohl nicht. Aber das, was die Schwester erzählte, habe gereicht. "Mein Vater hat mir mein Handy abgenommen und mich rausgeworfen. Und dann stand ich da im totalen Lockdown in Dinslaken."
Quelle: Frédéric Schwilden
Toprak packte hastig einen Koffer mit Kleidung und ihrem Laptop. Sie versuchte in einem Hotel zu übernachten. Aber wegen des Lockdowns wurde sie abgewiesen, irrte durch Dinslaken. Es wurde dunkel.
Der Tag endete auf einem Spielplatz, zehn Minuten zu Fuß von ihrem Elternhaus. Den Koffer versteckte sie in einer Hecke, ehe sie im Netz auf dem Klettergerüst einschlief. Die nächste Nacht verbrachte sie bei einem Freund. Dann schlief sie in einer Obdachlosen-Unterkunft.
Über die Moderatorin des 1Live-Podcasts fand Toprak schließlich eine Wohnung in Duisburg, einen Monat lebte sie dort kostenlos. Inzwischen zahlt sie selbst ihre Miete, arbeitet im Callcenter eines Handyherstellers.
Jesiden sind eine ethnisch-religiöse Gruppe. Sie kommen ursprünglich aus dem Irak. Deutschland ist die größte jesidische Diaspora der Welt, je nach Schätzungen leben hier etwa 100.000 bis 200.000 Jesiden. Die Jesiden werden schon lange verfolgt. Zuletzt wurden viele von der Terrormiliz Islamischer Staat als Sklaven gehalten und ermordet.
Das Jesidentum ist anders als der Islam, das Juden- oder das Christentum keine Buchreligion. Es gibt nur eine mündliche Überlieferung. Jeside ist, wessen Eltern Jesiden sind. Ähnlich wie in der hinduistischen Gesellschaft gibt es Kasten. Zu oberst die Scheiche, danach die Pire, unten stehen die Mur?d?n. Zu ihnen zählt Toprak.
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Der Tradition zufolge dürfen Frauen nur Männer der eigenen Kaste heiraten und müssen Jungfrau sein. Nach der Hochzeitsnacht, die viele auch als Vergewaltigung beschreiben, muss der Familie des Mannes ein blutiges Laken als Beweis für die Jungfräulichkeit präsentiert werden. Wer sich nicht an die Tradition hält, wird verstoßen.
Quelle: Frédéric Schwilden
Wir gehen auf den Balkon und rauchen. "Meine Landsleute wollen eine Frau, die keine Vergangenheit hat, die noch nie einen Mann geküsst hat", sagt Toprak. "Ich möchte dieses Leben nicht führen, was meine Cousinen und Tanten führen. Die haben diese Träume von einer großen Hochzeit und pompösen Kleidern. Aber am Ende ist es nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten."
Wir blättern durch ein altes Fotoalbum. Da sind junge Männer und junge Frauen. In Anzügen. In Kleidern. Auf Familienfeiern. In Restaurants. In Urlauben. "Das ist ein Stich in mein Herz, wenn ich mir das anschaue." Auch Topraks Eltern sind zu sehen. Sie wirken freundlich und sympathisch. Die Mutter ist tätowiert. Ihre in einer aufgeklärten Gesellschaft absurden Vorstellungen für das Leben ihrer Tochter sieht man den Eltern nicht an.
"Meinen Eltern fehlt die Bildung", sagt Toprak, die einen Hauptschulabschluss hat, aber gerne Psychologie studiert hätte. "Genau wie ihren Eltern. Das waren Bauern, die versucht haben, zu überleben."
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Sie erzählt von einem eigentlich harmonischen Familienleben, das mit ihrer ersten Regelblutung endete. "Mit der Pubertät durfte ich ganz viele Dinge nicht mehr." Während andere Mädchen aus ihrer Schule in die Disco gingen, Jungs trafen, sollte sie sich aufsparen. Ihre Schwester brannte zu dieser Zeit mit einem Araber durch.
Sie heirateten, bekamen Kindern. Die Schwester konvertierte zum Islam. "Meine Eltern haben sich dadurch verändert. Wir müssen auf unser Mädchen aufpassen, haben sie ab da gesagt."
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Das Aufpassen schlug in Bevormundung, in Gewalt um. Nach ihrem unfreiwilligen Auszug schickte der Vater Yasemin Toprak eine E-Mail und drohte ihr mit dem Tod. Am 1. August betrat Toprak zusammen mit vier Polizisten ihr Elternhaus, um noch ein paar Sachen zu holen.
Quelle: Frédéric Schwilden
Die Polizei Dinslaken bestätigt den Einsatz. Topraks Vater äußert sich auf WELT-Anfrage nicht.
Toprak sagt über die Polizei: "Die haben mir geholfen. Die haben mich noch zum Bahnhof gefahren. Die haben mich getröstet."
Was sie als Nächstes machen will? "Ich möchte eine Stimme sein. Ich möchte gesehen werden. Ich möchte zu kultureller Unterdrückung und Missbrauch etwas sagen. Ich möchte Teil der Aufklärung werden.
Quelle: welt.de